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Gegen die Schubladen im Kopf

Be oK-Fachtag zu klischeefreier Unternehmenskultur diskutiert neue Wege zur Berufsorientierung

Keynote Speaker Philip Herzer vom Bundesinstitut für Berufsbildung am Vortragspult

Entscheidend ist nicht, welcher Beruf gewählt wird – sondern, welche Berufe nicht gewählt werden und warum nicht. Diese Erkenntnis und welche große Rolle hier Geschlechterklischees spielen, erklärte Philip Herzer vom Bundesinstitut für Berufsbildung (bibb) beim Fachtag „Klischeefreie Unternehmenskultur als Chance für Betriebe“ des Projekts „Be oK – Berufsorientierung und Lebensplanung ohne Klischees“. Der Fachtag fand am 26. April 2022 im Kundencenter der Mercedes-Benz AG statt. Dort kamen rund 50 Fachleute aus den Bereichen Übergang von Schule zu Beruf, betriebliche Nachwuchs- und Fachkräftegewinnung, aus den Kammern, dem Hochschulbereich sowie berufliche Vorbilder (Role Models) aus Unternehmen zusammen, um neueste wissenschaftliche Erkenntnisse, Best-Practice-Beispiele und konkrete Handlungsvorschläge zu diskutieren.

Von wegen Neigung: Wie Berufswahl wirklich läuft

„Wichtig ist, was nicht gefällt! Berufswahl ist keine Auswahl, sondern ein unbewusster Ausschlussprozess“, erklärte der Keynote Speaker Philip Herzer. Er zeigte auf, wie wirkmächtig Stereotype bei der Berufswahl sind und wie wenig sie bisher bei der Berufsorientierung erfasst werden. Jugendliche durchlaufen ein Orientierungsangebot, nennen ihre Neigungen und Fähigkeiten und erhalten dann ein Berufsbild, das dazu passt – „und sagen dann, sie finden sich im Ergebnis nicht wieder: wie kommt das?“, fragt der Kölner Experte, der diesen Faktoren in dem Forschungsprojekt „Bildungsorientierungen und –entscheidungen von Jugendlichen im Kontext konkurrierender Bildungsangebote“ auf den Grund gegangen ist. Berufe seien „soziale Visitenkarten“: Berufe, die Wohlstand versprechen sowie Bildung und Intelligenz erfordern, genießen besonderes Ansehen. Herzer: „Wir schließen Berufe aus, von denen wir vermuten, dass unser Umfeld negativ auf sie reagiert.“

Ziel: Prestige von Berufen anheben, Blick öffnen, Spektrum weiten

Schubladen im Kopf seien hier prägend, so Herzer, und eine der ältesten Schubladen sei das Geschlechtsmerkmal: „Kinder sehen, in welchen Berufen Männer und in welchen Berufen Frauen arbeiten – und das merken sie sich“. So ergibt sich ein eingeengtes Spektrum von Berufen, die überhaupt als wählbar erscheinen. Obwohl Hilfsbereitschaft als Wert hoch geschätzt werde, liegen Pflegeberufe nicht hoch im Kurs. Andere Berufe erfordern viel Anstrengung, Bestnoten oder hohen Einsatz. Sie werden auf einer Skala der Erreichbarkeit als zu weit oben empfunden. Was hilft gegen diese Schubladen im Kopf? Herzer: „Das Prestige vieler Berufe muss angehoben und weniger geschlechtsspezifisch dargestellt werden. Role Models, die in Schulen gehen und Identifikationspotenziale schaffen, sind hier ein Ansatz.“ Ebenso wichtig sei es, sich unbewusste Wirkfaktoren bewusst zu machen. Herzer: „Vielleicht stehe ich mir selber im Wege bei der Berufswahl, die mich wirklich zufrieden macht.“

Gemeinsam gegen Klischees

Für die Praxis bestätigte Armin Zubrägel, Geschäftsführer der Agentur für Arbeit Bremen – Bremerhaven die Erkenntnisse aus der Wissenschaft und betonte, wie wichtig daher ein Projekt wie Be oK und ein Ansetzen in Klasse 6 und 7 seien: „Wir unterstützen das Projekt ausdrücklich. Wir sind mit unserer Berufsorientierung nämlich danach dran, ab Klasse 8, und machen hier die Erfahrung, dass Denkweisen schon teils verfestigt sind: Jungen und Mädchen wissen da genau, was sie nicht wollen“. Und dies sei schwer zu knacken: „Manchmal kann man sich dem Gruppendruck nicht widersetzen. Unsere Berater können beraten, aber sie können nicht immer überzeugen“. Zubrägel drang darauf, dass ein Projekt wie Be oK in den Lehrplänen etabliert werde – und er versprach dabei die konkrete Unterstützung der Agentur für Arbeit: „Geld ist vorhanden!“
Nicola Illing, Geschäftsführerin der Metropolregion Nordwest, erklärte die Motivation der Metropolregion, gemeinsam mit der Arbeitsagentur das Projekt Be oK maßgeblich zu finanzieren und damit zu ermöglichen: „Eine Region kann nur so gut sein wie die Menschen, die in ihr leben und sie mit ihren Ideen und ihrem Mut bereichern, statt sie mit Klischees auszubremsen.“

„Das will ich auch!“ Best Practice aus Bremen

Die Bedeutung von Rollenvorbildern verdeutlichte auch die kurze Präsentation von Best-Practice-Beispielen: Christoph Fantini berichtete von seinem Projekt „Rent a teacherman“, das Grundschullehrer in überwiegend weibliche Kollegien schickt. Anja Oden und Nadine Klügel warfen ein Schlaglicht auf die Betriebliche Ausbildung im Mercedes-Benz Werk und Sonja Hespenheide-Hollweg, Ausbildungsbeauftragte der Maler- und Lackiererinnung erläuterte, warum weibliche Auszubildende besonders hoch im Kurs stehen, dass aber nur ein Fünftel der Bewerbungen von Frauen käme und auch die Übernahme nach der Ausbildung von den Betrieben zwar gewollt, aber wegen Beschränkungen oft nicht realisiert werde. Für „Be oK“ erklärte ein Role Model: „Meine schönste Begegnung: Ich berichtete vor Schülerinnen, dass ich Ingenieurin für Tiefseetechnik bin. Darauf sagte ein Mädchen: Das will ich auch! Was muss ich dafür können?“

Überzeugungstäterin ZGF: Vom Modellprojekt ins Regelangebot

„Mit Be oK möchten wir einen Beitrag dazu leisten, dass Mädchen und Jungen entlang ihrer Interessen und Stärken den für sie richtigen Beruf finden“, erklärte Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm für die ZGF: „Eine frühzeitige stärken- und neigungsorientierte, klischeefreie Berufsorientierung, die Lebensplanung und Gesunderhaltung als Elemente einschließt, wird die Qualität der Berufsbildung auch in späteren Lebensphasen positiv beeinflussen. Davon sind wir überzeugt“. Die Landesfrauenbeauftragte dankte den Kooperationspartnern des Projekts, neben der Metropolregion und der Agentur für Arbeit zählen dazu die Handelskrankenkasse Bremen, die Arbeitnehmerkammer Bremen sowie der Landkreis Osterholz. Sie versprach: „Wir werden uns dafür einsetzen, dass Be oK kein Modellprojekt bleibt, sondern ein Angebot, das Schulen und Schulträger abrufen und regelhaft für sich nutzen können.“

Mehr zu „Be oK – Berufsorientierung und Lebensplanung ohne Klischees“

Stärken erkunden, Interessen ausloten und Klischees hinterfragen – darum geht es in dem Projekt Be oK. Initiiert von der Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten (ZGF) und unter fachlicher Begleitung eines Netzwerks regionaler Partner*innen finden bis November 2022 interaktive „Erlebnis-Projekttage“ an Schulen der Metropolregion Nordwest statt. Übergeordnetes Ziel von Be oK ist es, einen neuen pädagogischen Ansatz für Lehre, Fachkräftefortbildung, Wissenschaft und Unternehmenskultur zu entwickeln.

Das Projekt wurde im Jahr 2018 im Rahmen des Ideenwettbewerbs „Bildung & Fachkräfte“ der Metropolregion Nordwest ausgewählt. Neben der Metropolregion Nordwest wird das Projekt durch die Arbeitsagentur Bremen-Bremerhaven, die Handelskrankenkasse Bremen, die Arbeitnehmerkammer Bremen sowie den Landkreis Osterholz finanziert.

Mehr Informationen finden Sie auf der Projekt-Webseite.