Digna. Was heißt nochmal digna? Die Frau aus Südamerika, die fast schon fließend deutsch spricht, findet dieses Wort nicht, als sie von ihrem Leben und Arbeiten in Deutschland erzählt. Von den neuneinhalb Stunden Arbeit in der Pflege für zehn Euro Stundenlohn, jeden Tag, plus vier Stunden Fahrzeit auch jeden Tag. Von ihrer Traurigkeit, die sie überfiel, als sie von einem Besuch ihrer Tochter in Bremen zurückkehrte in den kleinen Ort in Ostdeutschland, in den sie als Flüchtling zugewiesen worden war. Und davon, wie es dann nicht mehr ging, wie die Depression kam. „Ich hatte keine Kraft mehr, fühlte mich mit jedem Tag schlimmer. Als ob mein Leben keinen Sinn hat.“
Jetzt, Jahre später, geht es ihr besser. Sie lebt in Bremen und sitzt gerade in den hellen Räumen von FOKUS, dem Zentrum für Bildung und Teilhabe der Initiative zur sozialen Rehabilitation e.V. Hier hat sie Hilfe gefunden und davon berichtet sie nun der Landesfrauenbeauftragten Bettina Wilhelm. Denn die engagiert sich mit ihrem Team in der Zentralstelle der Landesfrauenbeauftragten (ZGF) mit der Initiative „Vielfalt vor – Frauen | Migration | Arbeit“ insbesondere für Frauen mit Flucht- und Migrationshintergrund und deren Aufnahme in den Arbeitsmarkt.
Begleitung in ein Leben mit Arbeit, von der man leben kann
Fehlende Sprachkenntnisse, Alleinsein, Angst um den Aufenthaltsstatus, Gleichgültigkeit bei Behörden, Anfeindungen im Umfeld – all das sind Faktoren, die Menschen, die hier Zuflucht und ein besseres Leben suchen, krank machen können. Aber auch posttraumatische Belastungsstörungen durch im Herkunftsland oder auf der Flucht Erlebtes zählen dazu. Als Frau mit Flucht- oder Migrationsgeschichte ist der Weg in Erwerbsarbeit ohnehin steinig. Aber wer mit oder nach einer psychischen Erkrankung den Weg in den Arbeitsmarkt sucht, hat es nochmal schwerer. Das Beratungsangebot „Arbeit im Fokus“ berät und begleitet psychisch kranke und suchterkrankte Menschen bei ihrem Weg in ein „normales“ Leben, in Arbeit, von der man leben kann. Rund 350 Menschen haben die vier Berater*innen des Projekts seit Gründung 2020 begleitet, über die Hälfte Frauen, davon 41 Migrantinnen. „Das sind elf Prozent“, berichtet Bereichsleiterin Monika Möhlenkamp, „eigentlich müssten es mehr sein.“ Das zeigt, dass es offenbar hohe Hürden gibt für migrantische Frauen, Angebote wie FOKUS zu finden und wahrzunehmen.
Der Schlüssel: sich auskennen und ein großes Netzwerk
Die Frauen, die jetzt an diesem Herbstnachmittag von sich erzählen, wurden in Kliniken oder bei Therapeut*innen auf FOKUS und sein Angebot hingewiesen. Das durch Mittel des Europäischen Sozialfonds, dem Land Bremen und des Jobcenters finanzierte Projekt berät und unterstützt Menschen, auch zum Umgang mit ihren Erkrankungen. „Es geht darum, die Menschen dort abzuholen, wo sie gerade stehen und sie zu begleiten mit dem Ziel erster Arbeitsmarkt“, berichtet Coach Ursula Heiligenberg. „Wir versuchen uns überall auszukennen oder die Stellen zu kennen, die weiterwissen. Wir haben ein großes Netzwerk.“ Und viel persönliches Engagement. So sorgen Heiligenberg und ihre Kolleg*innen für die Anerkennung von Abschlüssen, unterstützen beim Weg in Praktika, Qualifizierung oder Job, begleiten Behördengänge und geben den Teilnehmenden Rückhalt. Neben zwei Coaches gibt es Genesungsbegleiter*innen: Personen mit eigener Psychiatrie- oder Krisenerfahrung, die im Rahmen einer Weiterbildung gelernt haben, ihr Wissen und ihre Erfahrung weiterzugeben an Betroffene und ihnen so auf Augenhöhe Mut zu machen, die schwere Zeit durchzustehen.
Das Angebot ist sehr gefragt, die Warteliste lang
Es gebe eine Warteliste für die Beratung, berichtet Monika Möhlenkamp, der Bedarf an Unterstützung sei hoch. Und dass das Jobcenter gerne an sie verweise, weil es so viele Menschen mit psychischen Erkrankungen gebe und offenbar wenig Angebote wie FOKUS. Die nun angekündigten Kürzungen des Jobcenters findet Monika Möhlenkamp sehr schwierig, und auch die ESF-Förderung läuft kommenden Herbst aus. Möhlenkamp macht aber nicht den Eindruck, als sorge sie sich um den Fortbestand des Angebots. Doch muss sie hinnehmen, dass die Beraterinnen selbst immer nur befristet beschäftigt und einige je nach Einstufung für ihre anspruchsvolle und vom eigenen Engagement lebende Arbeit nicht angemessen bezahlt werden können.
„Mir haben viele deutsche Leute geholfen“
„Das Gespräch hier hat mich frei gemacht“, berichtet die Frau aus Südamerika über ihren ersten Kontakt mit den FOKUS-Beraterinnen. „Ich habe mir selbst nicht die Genehmigung gegeben krank zu sein. Hier hat jemand zu mir gesagt: Manchmal ist es gut, nicht gut zu sein. Diese Worte haben mich frei gemacht.“ Sich einzugestehen können, krank zu sein, hat den Weg in die Genesung erst eröffnet. Inzwischen arbeitet die Frau im Kindergarten – „das gefällt mir sehr“ – hat ihre B1-Sprachprüfung, seitens Unternehmen vielfach Einstellungsvoraussetzung, erfolgreich hinter sich und plant den B2-Kurs und die Qualifizierung zur sozialpädagogischen Assistenz. Und da ist es wieder, das Wort: „Digna, was heißt das?“ Das Smartphone liefert. „Würdig“, sagt sie, „ich möchte mich würdig fühlen.“ Sie habe sich oft alles andere als würdig behandelt gefühlt. „Aber mir haben viele deutsche Leute geholfen.“ Nicht zuletzt die Frauen bei FOKUS.
Wenn Unterstützung da ist, kann das Ankommen gelingen
„Lebenswege wie dieser zeigen eindrucksvoll, welche Bürden Frauen mit Flucht- oder Migrationsgeschichte zu tragen haben und wie wichtig es ist, Angebote für diese Zielgruppe zu sichern“, resümiert Landesfrauenbeauftragte Bettina Wilhelm später. Digna: genau darum geht es – um Menschenwürde, um das Recht auf Teilhabe, um die Möglichkeit anzukommen und sich mit eigener Kraft ein neues Leben aufbauen zu können. „Die Stärke, die diese Frauen trotz Krankheit ausstrahlen, hat mich wirklich beeindruckt, ihr Wille zu kämpfen für eine Arbeit, für die Anerkennung von Abschlüssen, für ein Studium, um hier in Deutschland auf eigenen Füßen stehen zu können und ihre Existenz zu sichern“, so Wilhelm weiter. „Frauen mit Flucht- und Migrationsbiografie stehen vor großen Herausforderungen
und mit einer psychischen Erkrankung kommt eine weitere, große Hürde auf dem Weg in die Integration dazu. Wenn Unterstützung da ist, dann kann das Ankommen gelingen. Und im besten Fall wie diesem hier finden wir eine Fachkraft, die dringend gebraucht wird.“
Initiative „Vielfalt vor!"
Das Ziel der ZGF-Initiative "Vielfalt vor!" – Frauen | Migration | Arbeit" ist es, dass im Land Bremen mehr Frauen mit Migrations- und Fluchthintergrund langfristige und existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse bekommen. Hierfür sucht ZGF-Mitarbeiterin Sevda Atik, die das Vorhaben in der ZGF verantwortlich gestaltet, den Schulterschluss mit Akteurinnen und Akteuren aus den Bereichen Politik, Verwaltung, Wirtschaft, Soziales und Migration.
Rund 37 Prozent der im Land Bremen lebenden Menschen haben einen Migrationshintergrund, rund die Hälfte von ihnen sind Frauen. Arbeit ist ein wichtiger Faktor für ihre Integration und eine wesentliche Voraussetzung für ihre gesellschaftliche Teilhabe. Die Erwerbstätigenquote von Menschen mit Migrationsgeschichte liegt in Bremen jedoch bei nur rund 58 Prozent und ist damit im Bundesvergleich besonders niedrig. Die Erwerbstätigenquote von Frauen ist dabei noch einmal niedriger als die der Männer.
„Vielfalt vor!“ wird durch die Senatorin für Arbeit, Soziales, Jugend und Integration aus Mitteln des Landes und des Europäischen Sozialfonds Plus gefördert.